Unserem grundsätzlichen Verständnis zufolge ist die Mikrostrukturentwicklung polykristalliner Materialien ein thermisch aktivierter Prozess. Es gibt allerdings eine Reihe Funktionskeramiken wie beispielsweise Strontiumtitanat und ähnliche Materialien, die dieser Erwartung nicht folgen und stattdessen kein Arrhenius-Verhalten des Kornwachstums zeigen. Höhere Temperaturen können dann zu feinkörnigerer Mikrostruktur führen. Dieses Unerwartete Verhalten geht mit bimodalen Korngrößenverteilungen, Segregation und Raumladungszonen einher.
Ein vollständiges Verständnis dieser Vorgänge ermöglicht das Maßschneidern von Mikrostrukturen entsprechend den Anforderungen einer Anwendung. Ein gezieltes Einsetzen der Kornwachstumsanomalien erlaubt das Einstellen von gleichmäßig fein- oder grobkörnigen Mikrostrukturen bis hin zu quasi-einkristallinen Strukturen mit vielen 100 µm Korngröße, wenn Segregation und Raumladungszonen richtig angepasst werden. Dieser neue Ansatz zur Beherrschung der Mikrostrukturentwicklung birgt großes Potential für die Optimierung von Funktionseigenschaften: Ionenleiter kämpfen fast immer mit schlechten Korngrenzleitfähigkeiten, wie zum Beispiel Protonenleiter (BaZrO3), Li-Leiter (LixLayTiO3) und Sauerstoffleiter (CeO2).
Ein vollständiges Verständnis der Mikrostrukturentwicklung schließt eine umfassende Analyse bimodalen Kornwachstums (‚abnormales Kornwachstum‘) ein. Dieses Problem kann am besten durch Simulationen gelöst werden, indem digitale Zwillinge einer Mikrostruktur erstellt werden, beispielsweise mithilfe eines großskaligen Phasenfeldmodells. Daraus können zum Beispiel Nukleationsraten abnormaler Körner entnommen werden oder ZTU-Diagramme für Korngrenzphasen erstellt weden.
Die Kristallstruktur von Keramiken bedingt anisotrope Materialeigenschaften und ist auch der Grund für die Anisotropie der Grenzflächen. Das betrifft beispielsweise die Korngrenzenergie und –mobilität, aber auch Segregation, Raumladungszonen und Leitfähigkeiten. Zur Charakterisierung des Ausmaßes der Anisotropie sind aufwändige Modellexperimente nötig. Beispielsweise kann die Anisotropie der Korngrenzenergie über die Form von Poren oder Körnern in polykristallinen Mikrostrukturen ermittelt werden. Eine statistische Auswertung der Textur der Korngrenzebenen (‚Grain Boundary Plane Distribution‘) gibt weitere wichtige Informationen zur Anisotropie in polykristallinen Mikrostrukturen preis.
An den Korngrenzen in Funktionskeramiken bilden sich häufig Raumladungszonen. Dieser Effekt ist thermodynamisch bedingt: Korngrenzen sind zweidimensionale Kristalldefekte mit einer Anzahl aufgebrochener oder ungleichgewichtiger Bindungszustände und, als Konsequenz davon, Gitterspannungen. Um die Defektenergie der Korngrenze etwas zu reduzieren, bilden sich manche Punktdefekte bevorzugt an der Korngrenzebene. Dadurch erhält die Korngrenzebene eine Ladung, welche dann durch eine diffuse Anreicherung von Punktdefekten auf beiden Seiten der Korngrenze ausgeglichen wird. Segregation und Raumladungszonen sind in Funktionskeramiken häufig zu beobachten und rufen dann eine sehr schlechte Korngrenzleitfähigkeit durch Schottky-Barriereneffekte hervor.
Weniger bekannt ist der Einfluss der Raumladungszonen auf die Herstellung von Funktionskeramiken: segregierte Punktdefekte können sowohl das Sintern als auch die Korngrenzbewegung maßgeblich beeinflussen. Die physikalischen Grundlagen davon sind aus der Metallforschung der Sechziger Jahre bekannt (‚solute drag‘). Insgesamt benötigt das komplexe Zusammenspiel von Mikrostrukturentwicklung und Performance ein gutes Verständnis der Segregation und Raumladungszonen. Dafür können bestehende Modelle aus der Metallforschung weiter ausgebaut werden und beispielsweise für physikalische Phasenfeldmodelle genutzt werden.
Adsorption und Korngrenzphasen in Keramiken erhielten in den Neunzigern viel Aufmerksamkeit im Kontext der mechanischen Eigenschaften von Siliziumnitrid. Solche Adsorptionsfilme entstehen wiederum aus thermodynamischen Gründen: durch die Bildung von Korngrenzfilmen kann die Korngrenzenergie drastisch reduziert werden. Dieses Phänomen ist unter den Begriffen Critical Wetting, Intergranular Glassy Films (IGF) oder Complexions bekannt.
Kontaktpersonen
Wolfgang Rheinheimer
Prof. Dr.-Ing.Institutsleiter / Abteilungsleiter Funktionskeramiken
Pascal Zahler
M.Sc.wissenschaftlicher Mitarbeiter
Lukas Theis
M.Sc.wissenschaftlicher Mitarbeiter